Die Tochter Jephtas. Eine Legende

 

Als König Ferdinand von Aragonien und Königin Isabella die Katholische das Gesetz erlassen hatten, alle jüdischen Einwohner ihres Reiches sollten entweder die Taufe annehmen oder das Land verlassen, schicken sich die jüdischen Einwohner der Stadt Santa Rosita an, wegzugehen. Zugleich dringt die Nachricht in die Stadt, es breite sich die Pest aus. Die Stadtväter wollen den Arzt Rabbi Charon ben Israel in der Stadt halten. Doch dieser lehnt ab, hocherfreut über das Strafgericht, das sein Gott über seine Feinde schicken wird. In dieser Situation tritt auch der junge Erzbischof von Santa Rosita auf mit dem Hinweis, dass es Christen verboten sei, sich von jüdischen Ärzten behandeln zu lassen.
Eines Tages erblickt der junge Künstler Pedro della Barca, welcher für die Kathedrale die Gestalten der Ecclesia und der Synagoge anfertigen soll, Michal, die blinde Tochter Charon ben Israels, wartend vor dem Haus und sieht in ihr das Vorbild für die von ihm zu schaffende Figur der Synagoge. Pedro della Barca fertigt einen Entwurf, doch dieser missfällt dem Erzbischof, weil die Synagoge nicht wie üblich eine Binde über den Augen als Zeichen der Verstockung trägt. Während die Juden ihre Sachen zusammenpacken und verladen, erscheint lautlos ein hochgewachsenes Weib mit weit ausholenden, herrischen Schritten, erdfahlem Gesicht, flackernden, fieberkranken Augen, triumphierend in Schritt und Haltung, fahl und abgezehrt wie eine Sterbende, dabei machtvoll wie eine Siegerin: die Pestjungfrau. Diese nimmt die Michal in ihre knöchernen Arme, welche laut aufschreit, wankt und ihrem herbeieilenden Vater in die Arme sinkt. Da weiß dieser, dass er seine Michal verlieren wird und ihn der Gott seiner Väter zwingen will, in der Stadt auszuharren. In ihrer Sterbestunde bittet Michal ihren Vater, den Kranken von Rosita beizustehen, denn: „auch Feinde sind Menschen und unsere Brüder.“ Die Stadt ist wie umgewandelt: Die Furcht vor dem Tod schlägt vordergründig um in Tanz und Fröhlichkeit einerseits, Bittgesänge andererseits. Die angsterfüllten Menschen setzen ihre Hoffnung auf den Rabbi. Dieser aber zieht sich in sein Haus zurück, wo ihm ein Blatt in die Hände fällt, das er in der leergeräumten Synagoge gefunden hatte: „Du sollst dich nicht freuen über den Fall deines Feindes. Hungert deinen Feind, so speise ihn, dürstet ihn, so tränke ihn, und wenn er krank ist, so heile ihn.“ Doch die Trauer um seine Tochter weicht zusehends dem Triumph über die auf seine Feinde herabkommende Vergeltung; denn die Pest breitet sich aus. Nach drei Tagen wird Charon zum Erzbischof beordert. Auf dem Weg zu ihm glaubt er Michal an seiner Seite, die ihn auffordert, zu helfen. In der Werkstatt von Pedro della Barca findet er diesen todkrank zu Füßen der Statue der Synagoge, die gestaltet ist wie eine Maria und Michals Gesichtszüge trägt. Da kommt der junge Erzbischof auf ihn zu: „Im Jüngsten Gericht wird man nicht nach der Rechtgläubigkeit fragen, sondern nach der Liebe und Barmherzigkeit.“ Die Pest in Santa Rosita erlischt, Charon ben Israel und der Erzbischof hatten keine Mühe gescheut, die Kranken zu pflegen und zu heilen. Bereits beim Dankgottesdienst stehen Pedro della Barcas Figuren der Ecclesia und der als Maria gestalteten Synagoge über dem Portal der Kathedrale: „Die Synagoge ist auch eine Maria, denn sie war die Pforte, durch welche das Heil der Welt bei uns eintrat. – Die Liebe ist stark wie der Tod und wie eine Flamme des Herrn.“

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